Im Oktober 2019 erhielt die ÜSTRA ein Angebot, das man nicht ablehnen kann: Von Privat wurde eine „Schmuckmappe“ vorgelegt, die im Jahre 1902 dem damaligen Direktor der Straßenbahn Hannover AG, Theodor Krüger, gewidmet war. Der Dachbodenfund gibt einige Rätsel auf, denn das damit verbundene erste Jahrzehnt der ÜSTRA Geschichte hat es in sich.
Die großformatige Mappe sieht auf den ersten Blick aus wie ein prunkvolles Buch – nur ohne jeden Inhalt. Die goldene Inschrift: „Dem Straßenbahn-Direktor Herrn Theodor Krüger gewidmet von Bewohnern der Stadt- und Landkreise Hannnover, Hildesheim, Linden, Burgdorf und Springe. September 1902“. Damit ist klar, dass es eine Gabe zu Krügers Abschied vom Direktorenposten der Straßenbahn Hannover am 1. Oktober 1902 war. Die handgearbeitete, vielfarbige Ansicht der Mappe – gedacht vielleicht für die zum Dienstende erhaltene Urkunde? – zeigt neben allerlei floralen Elementen und Glas-Schmucksteinen diverse Wappen und in der Mitte Elektra. Sie steht zur damaligen Zeit für den noch jungen Bereich der Elektrizität und ihrer Anwendungen. Elektra, die Strahlende, hält in ihrer Rechten ein verschnörkeltes „StH“ als damals übliche Abkürzung des Unternehmensnames und in der Linken einen Stab mit dem Funken sprühenden Speichenrad, Symbol der elektrischen Bahn. Hinter der drallen Dame sieht man etwas Landschaft samt Straßenbahn, Wagenhalle und Oberleitung, dominiert vom preußischen Adler. Gestaltet hat all dies ein „H.Hinzmann, Hannover“ auf einer Fläche, größer als eine Seite heutiger Tageszeitungen in Hannover.
Städte und Kreise danken
Wiedergegeben sind zudem die Wappen der Fürstentümer Calenberg, Hildesheim und Lüneburg (oben), der Städte Sarstedt, Linden, Hannover, Hildesheim und Pattensen (unten, von links) sowie des Landes Preußen mit den Initialen FR für Friedericus Rex (König Friedrich I.) und gegenüber das springende Sachsenross als Symbol der Provinz Hannover. Erkennbar stehen die Wappen für all jene Orte im weiten Umkreis, die von der Straßenbahn Hannover seinerzeit erreicht, erschlossen und – dies sogar noch weit darüber hinaus – mit elektrischem Strom für Betriebe und Haushalte versorgt wurden. Und die davon ganz erheblich profitierten, also allen Grund zum Dank hatten. Elektrisches Licht und Kraftstrom auch in kleinen Dörfern, Straßenbahnlinien und ein für jedermann zugänglicher öffentlicher Güterverkehr waren um 1900 alles andere als üblich. Im Raum Hannover hingegen dank eines weitblickenden Straßenbahndirektors schon. Mitte 1901 war das große Netz des erst im Juni 1892 gegründeten Unternehmens in seiner Maximalausdehnung samt etlicher „Kraftstationen“ fertig und wurde vollständig elektrisch befahren. Das war und ist einmalig.
Eine Dekade des Wachstums
All dies zwischen 1892 und 1902 ist eng mit dem Wirken Theodor Krügers verbunden. Dass sich auch um ihn einige Rätsel und Legenden spinnen, ist bei großen Erfolgen und starker Gegnerschaft nicht überraschend. Dank vieler aus der frühen Geschichte der ÜSTRA überkommenen, aber noch lange nicht erschlossenen Akten lässt sich eine erste Übersicht gewinnen. Krüger wird als durchsetzungsstark und bei den Mitarbeitern beliebt beschrieben, hatte aber im Aufsichtsrat der Straßenbahn wie auch an der Spitze der Stadt Hannover einige Gegner. Die Legende besagt, dass nach der enormen Ausweitung der hannoverschen Pferdebahn zum etwa 30 Kilometer weit ins Land hinausreichenden, elektrisch befahrenen Netz (konkret von 23 Kilometer Pferdebahn 1892 auf 292 km „Elektrische“ 1901) samt dem 1899 aufgenommenen und seinerzeit größten Straßenbahn-Güterverkehr Deutschlands binnen nur acht Jahren den Aktionären der finanzielle Erfolg zu lange ausblieb. Wie sollte sich auch alles binnen so weniger Jahre quasi „von heute auf morgen“ amortisieren!
Die reichen Herren waren auch reichlich ungeduldig und hatten zu hohe Rendite-Hoffnungen in Krüger gesetzt. Infolge gesamtwirtschaftlicher Einbrüche fielen die Zahlen um 1900 nur noch schlechter aus. Die Aufsichtsräte stellten dem bis dato alleinigen Direktor Theodor Krüger wegen allzu schlechter Finanzergebnisse mit Theobald Fromm am 17. Dezember 1901 einen Kaufmännischen Direktor zur Seite – der aber offenbar Krüger eher unterstützte als bremste. Doch da war es ohnehin schon zu spät: Das Jahr 1901 sah zwei außerordentliche Generalversammlungen der Straßenbahn, harte Worte seitens der Aufsichtsräte, eine geradezu entehrende Schrift der Schutzvereinigung der Aktionäre unter dem Titel „Die Wahrheit über die Straßenbahn Hannover“ samt statistischer Vergleiche sowie die Untersuchungen einer Revisionskommission. Letztlich musste Krüger am 1. Oktober 1902 gehen.
Ein folgenreicher Ausrutscher
Das ist die eine Seite der Geschichte. Es gibt auch eine andere. Sie lässt sich aus Dokumenten rekonstruieren, die ebenfalls erhalten geblieben sind. Demnach suchte der schwer kranke Krüger am 17. und am nochmals am 31. Oktober 1901 unter Beifügung von drei ärztlichen Attesten beim Aufsichtsrat um seinen Abschied vom Direktorenposten und Versetzung in den Ruhestand nach. Demnach war Krüger am 21. März 1899 „in dienstlicher Tätigkeit“ schwer verletzt worden. Es lässt sich aus den damaligen Schreiben rekonstruieren, dass er offenbar bei einer Probefahrt vor einer Streckeneröffnung bei der Entgleisung eines Straßenbahnwagens vom offenen Perron geschleudert wurde. Krüger, der trotz seiner herausgehobenen Stellung im Unternehmen doch zumeist vorn beim Wagenführer gestanden haben soll, zog sich dabei einen offenen Bruch des rechten Oberarms und Trümmerbrüche am Ellenbogen zu. Den rechten Arm sollte er nie wieder richtig nutzen können. Überliefert ist darauf folgend ein längerer Briefwechsel wegen der Pensionsansprüche, die zuvor nur unzureichend ausgehandelt worden waren. Letztlich einigte man sich. Der „völlig dienstunfähige“ Krüger wurde nach langer Pause 1920 Berater und Betriebsleiter der dann kaum überraschend alsbald elektrifizierten Bad Eilsener Kleinbahn. Kurz vor seinem Tode 1926 setzte er sich noch für eine Beschäftigung seines Sohnes bei der StH ein. Auch das gelang.