Wer in den vergangenen rund 50 Jahren durch Hannover ging, ist ziemlich sicher einem seiner Werke begegnet, potentiell eher mehreren, in der Innenstadt sogar alle paar Meter und Minuten: Professor Herbert Lindinger, international bekannter Designer, vollendete am 3. Dezember sein 90. Lebensjahr.
Große Teile seines umfangreichen, weithin bekannten Schaffens sind mit dem öffentlichen Raum verbunden, darunter befasst sich sehr viel mit dem Nahverkehr. Und in diesem Bereich wiederum finden sich zahlreiche Gestaltungen, die mit der ÜSTRA zu tun haben. Lindinger gab ihr ab 1973 ein neues, umfassendes Gesicht, ein neues Profil, ein positives Image. Und das rundum: Der Bogen spannt sich von der Unternehmensfarbe über den damaligen Schriftzug, Fahrzeuge, Wartehallen, Fahrgastinformationen bis zur Dienstkleidung. Man könnte in Sachen Corporate Design durchaus sagen: Ein Österreicher machte die zuvor eher blasse ÜSTRA und ihr Tochterunternehmen ÜSTRA Reisen – bis dato „fahr-mit“ benannt – prägnanter. Wahrnehmbarer. Lebendiger. Freundlicher.
Allumfassendes Corporate Design
Es gab eine Zeit, da war sehr vieles im ÜSTRA Universum in irgendeiner Form Zeugnis seines Schaffens. Der Stadtbahnwagen TW 6000 und das 1974 mit ihm Einzug haltende „ÜSTRA Grün“. Das „Wickeldesign“ der grün-weißen Busse ab 1979. Die unterschiedlichen Wetterschutzeinrichtungen und die lange Jahre charakteristischen „Lollies“ an allen Haltestellen. Fahrgastsitze und Fahrerarbeitsplatz. Der Schriftzug, das Briefpapier, die Visitenkarten. Berichte, Broschüren und Prospekte. Stelen, Vitrinen und Laternen. Und vieles mehr: Eine ausführliche Liste wäre lang, für diesen Beitrag zu lang. Und wahrscheinlich doch unvollständig, denn selbst die Gebäude auf dem Stadtbahn-Betriebshof Döhren zeichnete Lindinger. „Dank der Unterstützung des ÜSTRA Vorstandes gelang uns ein allumfassendes Corporate Design“, blickt Lindinger zurück. Die ÜSTRA war damit bundes- und branchenweit Vorreiter unter den Verkehrsbetrieben.
Etliche Grafikdesigner pilgerten damals nach Hannover, um all dies vor Ort zu besichtigen. Der Nahverkehr und mit ihm große Teile der Investitionsgüterindustrie waren damals von der im Privatkonsum entstandenen Designentwicklung ausgeschlossen. „Wir mussten erst einmal Mitstreiter finden, um zu verstehen zu geben, dass das Öffentliche Verkehrswesen ebenso ein Bestandteil unserer Kultur ist, der einer Gestaltung bedarf.“ 1980 warb er erstmals auf der Jahrestagung der Verkehrsunternehmen für mehr Design im ÖPNV. Mit gutem Grund: Bis etwa 1985 galt Design in Deutschland laut Lindinger „nur als etwas Privatbedarf-Relevantes. Verkehrsingenieure hielten es für reine Produkt-Kosmetik und damit für den so technikbestimmten Verkehrsbereich als uninteressant.“ Lindinger war insofern Vordenker, die damalige ÜSTRA Vorreiter. Heute gehört Design zum Alltag, nicht nur Zuhause, sondern auch auf der Straße. Lindinger hat wesentlichen Anteil daran, die ersten Zeichen gesetzt und Spuren hinterlassen. Herbert Lindinger ein Multitalent zu nennen, ist angesichts dessen durchaus berechtigt. Vom Hubschrauber über Sitzmöbel bis zur U-Bahn, von der Logoentwicklung bis zur Gestaltung ganzer Innenstadtplätze – seine Ideen und Konzepte sind an unzähligen Produkten und Orten in Hannover und der Bundesrepublik (teils darüber hinaus) zu finden.

Zwei Studiengänge, viele Spuren
Zunächst studierte Herbert Lindinger Grafik- und Ausstellungsdesign in Linz unweit seines oberösterreichischen Geburtsortes Wels, eröffnete schon mit 20 Jahren sein „Büro Lindinger“. Die Weichenstellung in Sachen Produktgestaltung und, wie es damals hieß, Industrielle Formgebung brachte ein Ruf seines späteren Lehrers Otl Aicher. Der hatte gerade eine Privat-Hochschule mitbegründet, die nicht minder legendäre Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG). Dort war Lindinger in seinem nunmehr zweiten Studiengang einer der ersten Lernenden – und gegen Ende der HfG einer von deren letzten Dozenten. Nach dem Ende der HfG wechselte Lindinger erst nach Frankfurt am Main, erhielt dann einen Ruf an die Universität Hannover. Hier wurde er erster Professor und zugleich Direktor des neuen Instituts für Industrial Design an der Architekturfakultät, wurde Dekan und Senator der Universität und wurde Hannoveraner. Eine Nähe des Designs zur Architektur ist an vielen seiner Werke abzulesen, etwa an den Arbeiten zum später so genannten „Stadtmobiliar“, also Wegeleitungen, Abfallbehältern und Leuchten sowie anderen Objekten im „urbanen Raum“. Geradezu konzentriert fand sich vieles davon in Hannover zwischen Kröpcke und (altem) ZOB, in der Fußgängerzone ebenso wie in der Passerelle. Mit erkennbarer Begeisterung noch mehr als 50 Jahre nach den ersten Kontakten erwähnt er drei enge Wegbegleiter und Unterstützer außerhalb des akademischen Betriebs: den kunstsinnigen und sozial denkenden Oberstadtdirektor Martin Neuffer, den weitblickenden Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht und den durchsetzungstarken ÜSTRA Chef Wilhelm Pällmann. Der sei ein Glücksfall für das Unternehmen gewesen, sagt Lindinger – und seine Kontakte zu Lindinger waren es nicht weniger, wäre anzufügen. Nur so konnte das allumfassende Bild der „neuen ÜSTRA“ entstehen, das in unvergleichlicher Weise ein Image erzeugte, bis heute frisch, unverwechselbar und bekannt wie kein zweites Corporate Design in Stadt und Region. Nebenbei: Wenige Tage nach Lindingers 40. Geburtstag war in der ÜSTRA beschlossen worden, das von ihm erst vorgeschlagene und dann konkret ausgewählte Grün testweise an einem Straßenbahnwagen aufzubringen. Aus dem originalen, zeittypischen „Signalgrün“ wurde in Hannover erst „Lindgrün“ und später einfach „ÜSTRA Grün“. Eine Farbe als Marke.
Stadtbahnwagen sind ein Stück Kultur
Auf die unausweichliche Journalistenfrage, welches seiner Werke ihm denn das wichtigste, bedeutendste, vielleicht liebste sei, antwortet Lindinger mit seinem so typischen Lächeln: „Wenn ich nur drei Kinder hätte, dann wüsste ich das!“ Wichtig und bedeutend war und ist vieles. Über die von ihm gestalteten Fahrzeuge etwa sagt er zusammenfassend, was ihm wichtig ist: „Das ist ein Stück Kultur. Ich habe versucht, diesen Kulturanspruch hineinzubringen in unser Straßenbild“. Was mit Blick allein auf diese Fahrzeuge mehr als gelang, sie prägten Stadtbilder: die inzwischen zum mobilen Denkmal erklärten DT2 für die U-Bahn Hamburg, Frankfurts erste Niederflur-Straßenbahn Typ R, drei Generationen Stuttgarter Stadtbahnen und natürlich die Wagen in Hannover. Andere bedeutende Objekte gehören wie selbstverständlich zum Alltag, als seien sie schon immer dagewesen, ganz besonders beim erwähnten „Stadtmobiliar“. Er habe sich „vorzugsweise den Dingen im öffentlichen Bereich gewidmet“, dem „Allgemeinbesitz“ wie er es nennt, der aber „meist als solcher nicht eingeschätzt wird“. Besitz auch ganz wortwörtlich, denn die 1960 für Hamburg geformten blauen Fahrgastsitze – 2022 Teil einer retrospektiven Design-Ausstellung im DB-Museum Nürnberg – fanden sich 1970 in Hannovers Stadtbahn-Prototypen wieder und später leicht modifiziert, auch in den 260 grünen Stadtbahnwagen. „Unbeanstandet“, fügt der Formgeber hinzu, der mit seinen Kollegen Sitzwinkel und Lehnenhöhe sehr sorgfältig erwog. Sogar bundesweite Verbreitung fanden bis heute ein ebenfalls 1960 für die Hamburger U-Bahn entworfener Abfallbehälter und Piktogramme. Andere begannen ihre später weltweite Aufkleber-Laufbahn in Hannovers Stadtbahnen.




Es hat sich viel bewegt
Im öffentlichen Raum werde gutes Design immer wichtiger, sagt Lindinger. Mit seinem Überblick über mehr als eine Ära erkennt er insgesamt „eine erfreuliche Tendenz“. Seit etwa 1980 hat sich viel getan. Durchsichtige Fahrerraum-Rückwände, unsichtbare Befestigungen von Innenverkleidungen, viel Glas, ambitionierte Rundungen und doch ungebogene Fenster, verdeckte statt vormals weit herausragende Kupplungen und versenkte Scheibenwischerachsen sind Merkmale von Lindingers steten Verbesserungswillens. „Gestaltung“ im besten Sinne war Programm. Schüler und Assistenten setzten dies erfolgreich fort, so Alexander Neumeister und Helmut Staubach mit überaus bekannten Fahrzeugentwürfen für Nah- und Fernverkehr. Auch nach seinem Abschied vom Lehrstuhl 1998 blieb er weiter aktiv, aus seinem weithin bekannten Büro „Lindinger & Partner Hannover“ nahe der Eilenriede wurde „LindingerDesign“.
Auch nach dem Schlusspunkt weiter aktiv
„Stuttgart war mein Entwurfsschlusspunkt“, sagt Herbert Lindinger und meint seinen für die Stuttgarter SSB anlässlich einer neuen Serie 2012 noch einmal überarbeiteten Stadtbahnwagen. Sein letztes großes Designprojekt. Wie üblich begleitete er auch mit fast 80 Jahren die Anfangsphase des Fahrzeugbaus im Werk. Der neue „S-DT 8.12“ ließ seine seit 30 Jahren bekannten Vorgänger in Stuttgart nicht alt aussehen, nahm Bewährtes ebenso wie jüngere Tendenzen und aktuelle Techniken auf. Es entstand – erneut – eine Ikone. So herausragend, dass die Deutsche Post Lindinger und seine Stuttgarter Stadtbahn 2018 im Rahmen ihrer Serie „Design aus Deutschland“ mehrmillionenfach würdigte: auf einer Briefmarke. „Ich bin weiter jeden Tag beschäftigt“, sagt der so Geehrte ganz kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag, an Aufgaben und Ehrenämtern mangele es auch heute nicht. Publikationen und Vorträge, Kontakte mit Doktoranden und für Interviews prägen seine Zeit. Anlässlich seines 90. ist in Österreich ein neuer „Herbert Lindinger Design Award“ ausgeschrieben worden. Ergebnisse: demnächst. Zum Rückblick jedoch gehört bei allen Erfolgen in Serie und stadtbildprägenden, von Millionen genutzten, bekannten Objekten auch dies: Manchmal musste der Gestalter klagen, um Urheberschaft oder Honorar zugesprochen zu bekommen. Ein reiches, wohlsortiertes Archiv half dabei und zeugt davon. Ein Handgriff, und ein Dokument, ein Entwurf und seine Variationen, eine Konstruktionszeichnung oder Fotos der Designstücke liegen vor. Herbert Lindinger, die Designlegende, hat das eigene Schaffen wohlsortiert parat. Ein Buch dazu ist in Arbeit. Sein Lebenswerk ist umfassend. Auch und ganz besonders in Hannover.
