Herz am Deich
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Herz am Deich

150 Jahre Straßenbahn in Hannover, 130 Jahre ÜSTRA und 130 Jahre Betriebshof Glocksee. Der Blick geht 2022 zurück ins Jahr 1892, an die Ihmestraße und was sich dort hinter den Deichen überaus Zukunftsweisendes tat.

Wer in Hannover nach dem Bahnhof Ihmestraße fragt, wird statt einer Antwort fragende Blicke bekommen. Schon die Ihmestraße ist eine Hürde: Es gibt sie seit 1985 nicht mehr. Also auch keinen Bahnhof? Von wegen – hier schlägt das betriebliche Herz der ÜSTRA Stadtbahnen. Denn „Bahnhof Ihmestraße“ – heute Glocksee – ist nicht weniger als eine Keimzelle, war jahrzehntelang das Herz der ÜSTRA und die Ihmestraße erste Adresse in Sachen Nahverkehr. Wo nach dem ersten Grundstückskauf diverse Wagenhallen und ein Dampfkraftwerk, Werkstätten, Lager, Wohnungen und mehr entstanden, befindet sich heute die Stadtbahn-Hauptwerkstatt der ÜSTRA. Der Betriebshof zog 1958 einige Meter weiter ihmeabwärts nach „Ohe“ – und hier steht in den Jahren ab 2023 das aktuell wohl größte Neubauvorhaben der ÜSTRA an. Rund um die vergessene Ihmestraße ist also weiter viel Bewegung. Tag und Nacht. Heute und morgen.

Betriebshof Ihmestraße um 1900 mit dem Kraftwerksbau und den Schornsteinen, Werkstatt, Gleisen und allerlei Fahrzeugen. Im Hintergrund die noch heute genutzten Wohnhäuser. Foto: ÜSTRA Archiv

Am 2. Juli 1892 unterzeichnete Theodor Krüger einen ersten Kaufvertrag mit dem Oekonom Friedrich Pieper (Ihmestraße 7) über den Erwerb des aus vier Parzellen bestehenden Nachbargrundstücks Ihmestraße 6, Gebäude, Garten, Wiese und Hofraum „nebst Zubehör“. Krüger war erster Direktor der gerade erst am 22. Juni 1892 neu gegründeten und am 7. Juli eingetragenen „Actiengesellschaft Straßenbahn Hannover“, der heutigen ÜSTRA. Die residierte anfangs an der Hildesheimer Straße 115, Sitz der Vorgängergesellschaft „The Tramways of Germany Company“, für die der vormalige Stadtbaurat Krüger – „Nationalität: Preuße“ – bereits seit April 1891 vis-à-vis des Döhrener Turms als Direktor und Bevollmächtigter agierte.

Die „Centrale Glocksee“

An der Ihmestraße am anderen Ende der Stadt muss es ab Sommer 1892 betrieblich und baulich sehr schnell vorangegangen sein: Am Straßenende entstand eine erste Wagenhalle für 32 Motorwagen, nördlich daneben unter großen Anstrengungen die 42 x 38 m messende, 6,50 m hohe „Kraftzentrale“, das Dampfkraftwerk nebst Generatoren. Der Strom wurde von der Straßenbahn selbst benötigt: Krüger forcierte länger schon die „Elektrisierung“ der bisherigen Pferdebahn. Siemens & Halske in Berlin wurde damit bereits am 4. Mai 1892 beauftragt. Ein Jahr später, am 12. Mai 1893, starteten an der Ihmestraße die ersten elektrischen Wagen unter Oberleitung, zunächst auf einer Versuchsstrecke zum Kanonenwall jenseits des Goetheplatzes. Am 19. Mai 1893 dann erlebte die Residenzstadt nach nur zweieinhalb Monaten Bauzeit zwischen Königsworther Platz und Herrenhausen die erste Fahrt der von den Hannoveranern „Lektersche“ genannten pferdelosen Bahn. Betrieben wurde sie zunächst von Siemens & Halske von der „Centrale Glocksee“ aus. Im Juli schon folgten zwei Oberleitungslinien durch Linden. An der Ihmestraße kaufte die Straßenbahngesellschaft derweil Parzelle um Parzelle – übrigens damals schon als Nachbar der Wagenerschen Stiftung, deren Grundstück sie seither an drei Seiten umschließt und umschient. Beide begannen buchstäblich auf der grünen Wiese am Rande der Stadt, hinter den Deichen, die das Areal Glocksee gegen Hochwässer von Ihme und ebenfalls naher Leineschleife (beseitigt 1916/17) schützten.

Soeben mit neuem Fahrgestell und Stromabnehmerbock zum elektrischen Triebwagen umgebauter vormaliger Pferdebahnwagen auf der Schiebebühne im Wagenschuppen Ihmestraße, 1893. Foto: ÜSTRA Archiv

Noch heute wichtiger Standort

Binnen weniger Jahre nach 1892 sah es rund um die Ihmestraße schon ganz anders aus. Dominierend die Hochbauten aus dem damals im Industriebau topmodernen Stahlfachwerk und die zwei mächtigen Schornsteine des Kraftwerks. Die noch heute bestehenden Betriebswohnungen markierten die Nordgrenze des einstigen Bahnhofs Ihmestraße, die Straße nach Linden – spätere Spinnereistraße – die südliche. Mehrere Wagenhallen gab es, eine samt Werkstatt über einen Wagenaufzug erreichbar im ersten Obergeschoss des mächtigen Baus an der Ecke Glocksee-/Ihmestraße – im Erdgeschoss waren
dort anfangs Pferdeställe. Die Straßenbahngesellschaft hatte ihren Sitz bis zum Bezug des ÜSTRA Neubaus am Hohen Ufer bis 1961 an der Ihmestraße, unter wechselnden Hausnummern. Die Glockseestraße wurde hier übrigens schon 1948 in Theodor-Krüger-Straße umbenannt – wegen dessen Verdiensten um den Nahverkehr in Hannover und im weiten Umland. Und um die so frühe und erstaunlich nachhaltige Erschließung der Glocksee zu verstehen, wäre hinzuzufügen – was wäre die
ÜSTRA heute ohne diesen innenstadtnahen und weiter entwicklungsfähigen Standort mitten im Netz?

Luftbild des Betriebshofs Ihmestraße aus den Jahren 1916/17. Foto: ÜSTRA Archiv

Als 1946 das große Februarhochwasser Hannover überflutete, stand auch der Bahnhof Ihmestraße rund eineinhalb Meter tief unter Wasser. Etwas später gab es Pläne, wegen einer vorgesehenen „Ihmeregulierung“ die Fläche zur Hälfte zu räumen – dazu kam es ebenso wenig wie zu einer weiteren Überschwemmung. Heute darf sich die Ihme gegebenenfalls etwas weiter südlich ausbreiten, die Stadtbahnwerkstatt Glocksee ist sicher. Sie erstreckt sich entlang der kompletten Ihmefront des früheren Betriebshofs Ihmestraße und folgt in den baulichen Abmessungen in etwa der früheren Reihe von Wagenhalle, Werkstätten und Kraftwerk. Zur Orientierung: Die heutige Betriebsleitstelle und die Verkehrsmanagementzentrale „schweben“ dabei in etwa über dem einstigen Maschinenhaus des Dampfkraftwerks, später Teil der Omnibuswerkstatt, dann Elektronikwerkstatt.

Vor zehn Jahren, 2012, entstand dieses Luftbild der heutigen Hauptwerkstatt. Die Zufahrt liegt im Zuge der früheren Ihmestraße. Foto: ÜSTRA Archiv.

Tipp zum Schluss: Die Ihmestraße gibt es zwar nicht mehr, aber wer am Knick der Theodor-Krüger-Straße an der Betriebshof- und Werkstatt-Zufahrt in Höhe Haus Nummer 7 ihmewärts schaut, der steht am Eckhaus zur einstigen Ihmestraße. Und sieht geradeaus das bogenförmige Dach des höchsten Werkstattbaus, der die Formen des um 1900 entstandenen und 90 Jahre später abgerissenen Vorgängerbaus architektonisch aufnimmt.

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