Der 21. März ist traditionell der „Tag des Waldes“. In den 1970er Jahren wurde er von den Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen ins Leben gerufen, als Reaktion auf die globale Waldvernichtung. Mich persönlich erinnert dieser Aktionstag jedes Jahr daran, dass es endlich wieder Zeit wird, raus zu gehen und Luft zu tanken. Der Winter war lang und ich habe ihn als klassischer Frostköttel überwiegend in beheizten Räumen verbracht. Der März ist zwar noch kühl, die Bäume sind noch kahl aber den aufkeimenden Frühling kann man in der Eilenriede schon mit allen Sinnen spüren.
Ich habe es nicht weit bis zum Wald. Mit der Stadtbahnlinie 3,7, oder 9 fahre ich bis zum Lister Platz. Etwa 250 Schritte sind es von diesem lärmenden Verkehrsknotenpunkt im Herzen der List, all den eilenden Menschen, hupenden Autos und dem grauen Betonklotz der U-Bahnstation, bis zur Eilenriede. Ich schlendere vorbei am „Wakitu“ und passiere einen noch nicht wirklich belebten Minigolfplatz und mehrere kleine Teiche, in denen Enten baden. Es geht grob in Richtung Emmichplatz. Irgendwo biege ich waldeinwärts ab. Dort werden die Wege schmaler, der Baumbestand enger, Spaziergänger, Jogger, Inliner und Vierbeiner immer seltener. Das Kindergeschrei ebbt ab, nur vereinzelt höre ich noch Hundegebell. Und irgendwann ist es plötzlich still. Und leer. Keine Menschenseele, kein Großstadt-Getöse, nur mächtige alte Bäume, die schlank und kerzengerade in den Himmel ragen. Die milde Märzsonne fällt sanft durch die Stämme hindurch und wärmt meine Wangen, weil ich sie ihr gierig entgegenstrecke. Jedes Mal bin ich neu überwältigt, wenn ich mein erstes, intensives Date im Jahr mit der Eilenriede habe. Ich befinde mich im Rausch der Stille – mitten in der Stadt. Was für ein Geschenk dieser Wald doch ist. Im wahrsten Sinne des Wortes: 1371 schenkten die Herzöge Wenzeslaus und Albrecht von Sachsen die Eilenriede der Stadt, als Belohnung für die Unterstützung in einem Erbfolgekrieg, unter der Bedingung, den Wald zu pflegen und zu erweitern.
Hannovers „grüne Lunge“ ist mit rund 640 Hektar der größte, zusammenhängende Stadtwald Europas, größer als der Hydepark in London und fast doppelt so groß wie der Central Park in New York. Nur der Messeschnellweg teilt seit den 50er Jahren den Wald in zwei Teile: die nördliche Eilenriede reicht von Kleefeld bis in die List. Kirchrode und die Südstadt umschließt sie wie ein „C“, inklusive Ausläufer bis zum Maschsee. Ein Wegnetz aus rund 130 Kilometern führt Radfahrer, Wanderer, Reiter und Spaziergänger vorbei an Teichen, Liegewiesen, Kinderspielplätzen, Waldgaststätten, Denkmälern und Skulpturen. Ihren Namen hat die Eilenriede übrigens von den Erlen, die auf dem feuchten Boden besonders gut wachsen (Eilen leitet sich ab aus Erlen/ Ellern und Riede ist eine alte Bezeichnung für sumpfigen Boden). Dreiviertel der Fläche besteht aus Laubbäumen wie Rotbuchen, Spitzahorn, Eichen, Ulmen und Erlen. Aber auch Nadelbäume wie Kiefern und Lärchen haben ihren Platz.
Mein nächstes Ziel ist die mächtige alte Linde, die im Zentrum des Rasenlabyrinthes nahe der Bernadotte-Allee steht. Der begehbare Irrgarten war einst germanische Kultstätte und ist heute beliebter Ruhe- und Rückzugsort, an dem man wunderbar seinen Gedanken nachhängen kann. Zwei ältere Damen sitzen auf der Bank und essen Kekse, ein Jogger-Paar macht Pause, um die Schenkel zu dehnen. Sonst ist niemand am „Rad“. Bedächtig schlendere ich minutenlang durch die Windungen aus Rasen und Kies bis zur Mitte. Dort stehe ich schließlich, meine Nase fast an die Rinde des Linden-Stammes gedrückt und atme tief. Es riecht ein bisschen wie in glücklichen Kindertagen: nach frischem Gras, Moos, feuchter Erde. Und ein bisschen wie ein guter, alter Rotwein: harzig, holzig, modrig. Ich beschließe, wieder öfter zu kommen. Über die Wintermonate hatte ich vergessen, wie gut es tut, die Lungen zu lüften, wie nah der Wald an meine Haustür grenzt, wie sehr dieser unglaubliche Schatz mein Großstadtleben bereichert. Nur gut, dass es Gedenktage gibt.