Mit einem außergewöhnlichen gemeinsamen Projekt sind der Jazzclub Hannover und die ÜSTRA in den Herbst gestartet: Eine Serie von Literaturlesungen, umrahmt von Jazzmusik, zu sehen online auf youtube und facebook. Das Besondere dabei: In den Stücken, die für die Lesungen ausgesucht wurden, geht es immer – aus den verschiedensten Blickwinkeln – um Nahverkehr. Ausgesucht hat die Autoren und ihre Werke der hannoversche Germanist Eberhard Schneider. Er beschreibt hier, was Autoren von Weltruf wie Thomas Mann, Alfred Döblin oder Franz Kafka an Bus und Bahn in ihrer Zeit gereizt hat.
„Ruller ruller fahren die Elektrischen, Gelbe mit Anhängern, über den holzbelegten Alexanderplatz, Abspringen ist gefährlich.“
So heißt es in Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 1929. Straßenbahnfahrten werden in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts zu einem häufig auftauchenden Motiv.
Die Autoren begeben sich in das Dickicht der Städte. Ihre Geschichten spielen in den verwirrenden Knotenpunkten des Verkehrs, so wird die Literatur neben Fotografie und Film zum Seismografen der städtischen Betriebsamkeit, zum Beobachter der Menschenmassen, der Verkehrsströme, der Neugestaltung der Innenstädte. Die Leser werden mitgerissen in den Strudel von Details, die schlaglichtartig auftauchen: grellbunte Plakate an Litfaßsäulen, die für die Tiller-Girls oder Manoli-Zigaretten werben, behelmte Schupos, die den Verkehr regeln, hölzerne Absperrungen um Baustellen, Mütter mit schreienden Kindern, Schlipshändler am Straßenverkaufsstand, vornehm gekleidete Herren mit Pelzkragen am Kamelhaarmantel.
Indem die Großstadt vor allem auch als Ort der Trambahnen und Busse, der Bolle-Milchwagen und Taxis wahrgenommen wird, erweist sich Mobilität als Leitmotiv für die Dynamisierung des Alltags und so findet man auch die Straßenbahn immer wieder als Schauplatz des literarischen Geschehens. Häufig wird dabei aus der Innenansicht der Akteure erzählt, wird das Treiben auf den Straßen durch oft flüchtige Impressionen sicht- und hörbar.
Die Fahrt in der Bahn hat allerdings mehrfach gebrochenen Charakter: Einerseits werden die literarischen Figuren und damit die Leser in hohem Tempo durch die Flut stetig neuer Wahrnehmungen bewegt, andererseits bewegen sie sich selbst nicht, sie verharren als Fahrgäste in einem Binnenraum. Der fragmentarischen Wahrnehmung des großstädtischen Chaos außerhalb des Waggons steht die Möglichkeit einer kontinuierlichen Betrachtung und Reflexion im Wageninneren gegenüber.
Eine zweite Ambivalenz kommt hinzu: die Anonymität in der Masse, als konstitutives Element der „Moderne“ ein essentielles Thema der Literatur. Zwar kommen die Bahnfahrenden sich gegenseitig durchaus nah, zeitweise sehr nah sogar, jedoch bleiben sie einander völlig unbekannt. Diese Zeitgleichheit von Nähe und Distanz eröffnet, gerade durch die erwähnte Statik im Inneren der Bahn, den Raum für viele Verhaltensmöglichkeiten und damit auch Erzählanlässe. Man kann sich „verstecken“, etwa, indem man das Gesicht von anderen abwendet und aus dem Fenster schaut. Man kann andere beobachten wie der Ich-Erzähler in Franz Kafkas Erzählung „Der Fahrgast“: „Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe.“ Man kann Geschichten erfinden über Mitfahrende wie die junge Gilgi in Irmgard Keuns gleichnamigem Roman: „Nicht wahr, junger Mann, man kauft sich nicht so eine schöne, strahlend gelbe Krawatte, wenn man nicht heimlich glaubt, eines Tages Chef mit Privatauto und ausländischem Bankguthaben zu sein?“ Oder man kann sein Spiel mit den anderen treiben wie die beiden Teenager in Thomas Manns Erzählung „Unordnung und frühes Leid“: „Ingrid ist imstande, mit hoher, schwankender, ordinär zwitschernder Stimme vorzugeben, dass sie ein Ladenfräulein ist, welches ein uneheliches Kind besitzt, einen Sohn, der sadistisch veranlagt ist.“
Im Schutzraum der Anonymität ist es möglich, den anderen Fahrgästen imaginär auf den Leib zu rücken, indem man sich ein Bild von ihnen macht, das sogar die Grenze der Intimsphäre überschreiten kann. Noch einmal Kafkas Fahrgast: „Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte.“ Ebenso ist es möglich, als Provokateur aufzutreten und sich auf Kosten anderer zu amüsieren, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.
Gleichzeitig sind aber alle Mitfahrenden nicht nur Beobachter oder Unruhestifter, sondern potenziell ebenfalls Beobachtete bzw. Provozierte. Niemand hat also den anderen gegenüber einen Vor- bzw. Nachteil. Das ist interessant vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität, denn mit der Straßenbahn erscheint ein Verkehrsmittel, in dem es – im unterschiedlichen Wortsinn – keine Klassen gibt. Der Lagerarbeiter nutzt die Tram ebenso wie der Verkäufer, die Telefonistin fährt mit, die Ehefrau des Handlungsreisenden auch. Gab es in den Eisenbahnzügen Abteile 1., 2. oder 3. Klasse und auf den Dampfschiffen ebenso eingeteilte Decks, sitzen in der Straßenbahn alle im gleichen Waggon. Auch dies lässt sich als „modern“ bezeichnen: die Straßenbahn als alltägliches Massentransportmittel und somit Sinnbild der Nivellierung sozialer Differenzen, passend zur Ablösung der Monarchie in Deutschland durch die Weimarer Demokratie in den 1920er Jahren.
Kein Wunder also, dass die Literatur dieser Zeit auch solche Aspekte aufnimmt, wenn auch mit der künstlerischen Skepsis, die der „Moderne“ eigen ist, noch einmal aus „Berlin Alexanderplatz“: „Sie alle aufzuzählen und ihr Schicksal zu beschreiben, ist schwer möglich, es könnte nur bei einigen gelingen.“