Marylin und die Pizza-Ratte – Ikonen und Mythen der New Yorker U-Bahn (Teil 1)
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Marylin und die Pizza-Ratte – Ikonen und Mythen der New Yorker U-Bahn (Teil 1)

Vorletztes Jahr hat für Udo Iwannek der Ruhestand begonnen. Seitdem hat der ehemalige ÜSTRA Pressesprecher viel Zeit zum Reisen. Vor einigen Monaten ging es mit Ehefrau Annegret nach New York – die Traumstadt der beiden. Zum Image der Stadt, die niemals schläft, gehört auch die New Yorker U-Bahn. Die hat Iwannek in dem zwölftägigen Urlaub nicht nur intensiv genutzt, sondern ist auch deren wechselhafter Geschichte und ihrem unvergleichlichen Mythos auf die Spur gegangen.

Als Matt Little, ein New Yorker Komiker, nach einem Auftritt in einem Comedy Club nachts mit der U-Bahn nach Hause fahren wollte, hörte er in der Tunnelstation ein merkwürdiges, schlurfendes Geräusch. Er entdeckte eine kleine Ratte, die ein Stück Pizza – dreimal so groß wie das Tierchen selber – eine Treppe hinunter schleppte, wohl in der Absicht, es in der Dunkelheit des Tunnels gemeinsam mit seiner vielköpfigen Familie zu verzehren. Little zückte sein Handy und filmte den pelzigen New Yorker mit dem langen Schwanz und dessen Nachtmahl. Zuhause angekommen, lud er das kurze Filmchen auf Instagram und YouTube hoch und legte sich dann schlafen.

Das war am 21. September 2015. Seitdem ist das Video rund 24 Millionen Mal angeklickt worden. Die Pizza Ratte in der New Yorker U-Bahn wurde ein Weltstar und hat auch ihren Entdecker wohlhabend gemacht: Matt Little ließ sich die Marke „Pizza Rat“ schützen und kassiert heute Geld von Pizza-Bringdiensten, die mit dem Nagetier werben wollen.

Die New Yorker U-Bahn. (Foto: Iwannek)

61 Jahre bevor Matt Little die Pizza Ratte entdeckte und berühmt machte, wurde eine andere New Yorker Ikone geboren – und auch diese ist nicht denkbar ohne die U-Bahn. 1954 drehte Regisseur Billy Wilder den Film „Das verflixte siebte Jahr“ mit Marylin Monroe und Tom Ewell in den Hauptrollen. Die Story ist schnell erzählt: ein Durchschnitts-New Yorker wird für einige Wochen zum Strohwitwer, weil seine Frau mit den Kindern vor der brütenden Hitze der Großstadt in die Sommerfrische an den Atlantik flüchtet und er aus beruflichen Gründen allein in der Stadt zurückbleiben muss.

Seine neue Nachbarin ist Marylin Monroe – in ihrer Paraderolle des blonden Dummchens ein Mensch gewordener Männertraum und fortan Gegenstand wildester Fantasien des New Yorkers. Billy Wilder spielt mit allen Klischees der prüden 50er Jahre, um sie am Ende ad absurdum zu führen, denn es ist der Mann, der vor sich selbst so erschrickt, dass er schließlich zu seiner Ehefrau an der See flüchtet.

Geblieben ist von diesem Film im kollektiven Gedächtnis ein Bild: Nach einem Kinobesuch spaziert Tom Ewell mit der Monroe die Lexington Avenue hinunter, wo diese im Straßenpflaster ein Lüftungsgitter der U-Bahn entdeckt. Sie stellt sich auf das Gitter, als unten eine U-Bahn durchbraust, und lässt sich den Luftstrom unter ihren Rock blasen, um sich in der Hitze der Großstadt abzukühlen. Wie sie lachend ihren Rock niederkämpft, um sich vom Wind der U-Bahn nicht bis aufs Höschen entblößen zu lassen, ist bis heute eines der bekanntesten Abbilder der Nachkriegs-Popkultur.

Nicht nur im Film, auch in der Musik ist die New Yorker U-Bahn viele Male besungen und verewigt worden. Billy Strayhorns Jazz Klassiker „Take the A Train“ aus dem Jahr 1939 empfiehlt die Linie A um Harlem zu besuchen und schwarzen Jazz zu hören. Schon 1964 wussten Simon & Garfunkel: „…the words of the prophets are written on the subway walls“ (Sounds of Silence). 1987 ließ Michael Jackson sein Musikvideo zu „Bad“ von Martin Scorsese in der Station Hoyt-Schermerhorn in Brooklyn drehen. Scorsese hat in Filmen wie „Taxi Driver“, „Hexenkessel“ oder „Gangs of New York“ die Stadt oft porträtiert. Und wer erinnert sich nicht an Charles Bronson in „Ein Mann sieht rot“ von 1974, wie er nur darauf wartet, in der U-Bahn überfallen zu werden, um die Räuber über den Haufen zu schießen? An den Thriller „Die Entführung der U-Bahn Pelham 123“ aus dem gleichen Jahr? Oder an den „Joker“ (2019) wie er mit einem irren Grinsen, das einem das Blut gefrieren lässt, in der U-Bahn hockt? Die Liste ist endlos.

Wenn wir an New York denken, denken wir an die Subway, wie sie dort ihre U-Bahn nennen. Und wenn wir das Glück haben, New York besuchen zu dürfen, erfahren wir dort buchstäblich, wie unauflöslich die Stadt und ihre U-Bahn miteinander verbunden sind – in Liebe und Hass. Die Subway prägt das New Yorker Lebensgefühl und spiegelt es wider. Glanz und Elend der Subway sind der Glanz und das Elend der Stadt.

New Yorker sind wie ihre Subway: kantig, laut und nicht kleinzukriegen. (Foto: Iwannek)

Wie alles in New York beeindruckt die Subway zunächst durch ihre schiere Größe. 5,4 Millionen Fahrgäste pro Tag, 420 Kilometer Gleisnetz, 470 Stationen, 6.500 Wagen und 36.000 Mitarbeitende. Die Subway verbindet das Herz von New York City, Manhattan, mit den benachbarten Stadtteilen, also Queens, der Bronx und Brooklyn. Man kann tatsächlich mit der U-Bahn mitten aus Manhattan bis an den atlantischen Ozean fahren, nach Coney Island im Süden von Brooklyn. Wir haben es gemacht und einen wunderbaren Tag am Meer verbracht. Die Fahrtzeit beträgt ungefähr eine Stunde. Auf Coney Island wurde übrigens um 1900 der Hotdog erfunden. Dazu ein frisch gezapftes Brooklyn Lager Beer am Strand – das ist der Urlaub des kleinen Mannes in New York.

Auch im Alltag kommt niemand in New York um die U-Bahn herum – ob man sie nun hasst oder liebt (bei den meisten New Yorkern ist es vermutlich eine Mischung aus beidem). Der Grund ist simpel: Die Subway ist in dieser extrem verdichtet bebauten Stadt schlicht das mit Abstand schnellste Verkehrsmittel. Wo man wie in Manhattan mit seinem überwiegend schachbrettartigen Straßennetz alle 80 Meter an einer durch Ampeln geregelten Kreuzung steht, macht Autofahren beim besten Willen keinen Sinn. Kein Wunder also, das rund 90 Prozent aller New Yorker Pendler den öffentlichen Nahverkehr benutzen und nur 10 Prozent das Auto – ein modal split, von dem deutsche Verkehrsplaner nur träumen können.

Lebensalltag Subway: prächtige Aussichten draußen, erschöpfte Fahrgäste drinnen. (Foto: Iwannek)

Das reine Vergnügen ist die Subway allerdings nicht, das stellt auch der Tourist in New York rasch fest. Vor allem das antiquierte Ticketsystem überrascht. Man kauft eine Metrocard, die für eine Woche rund 35 Euro kostet und beliebig viele Fahrten mit Subway und Bussen erlaubt. Für eine der teuersten Städte der Welt ist das sogar noch recht erschwinglich. Die Metrocard ist allerdings keine Plastikkarte mit Chip, sondern ein Stück Papier, bedruckt mit einem Magnetstreifen. Um damit in eine Station zu kommen und Zugang zum Subway-Netz zu erlangen, muss man die Metrocard mit dem Magnetstreifen durch einen langen Schlitz ziehen, damit sie ausgelesen und das Drehkreuz entriegelt wird. Allerdings nicht zu langsam, sonst tut sich nichts. Und auch nicht zu schnell, sonst tut sich ebenfalls nichts. Am besten postiert man sich erstmal in der Nähe und schaut den New Yorkern zu, mit welchem Tempo sie die Karte durch den Schlitz führen. Und das in der Heimat der Tech-Giganten Google, Apple und Co…

Der Zugang in das unterirdische Subway-Netz führt in der Regel über unfassbar enge und steile Treppen – Aufzüge gibt es nur vereinzelt. Barrierefreiheit ist meist Fehlanzeige.

Steile und enge Treppen sind ein Markenzeichen der New Yorker U-Bahn. Barrierefreiheit? Oftmals nicht vorhanden. (Foto: Iwannek)

Und die Stationen selbst lassen bis auf wenige Ausnahmen jeden Willen zu ansprechender Gestaltung vermissen. Die ersten Stationen wurden vor hundert Jahren noch mit prächtigen Marmorkacheln verkleidet. Die Grand Central Station vermittelt einen Eindruck davon, dass die Schnittpunkte des Nahverkehrs einmal die Größe und Herrlichkeit von gotischen Kathedralen hatten. Heute sind die meisten New Yorker U-Bahn Stationen dunkle Orte und die Wagen metallene Beförderungsmittel, die auch so aussehen: praktisch, aber völlig schmucklos. Doch immerhin ist die Subway heute sicher und sauber. Das war nicht immer so.

Die Kathedrale des Nahverkehrs: New Yorks Grand Central Station, Schnittpunkt von Subway und den Vorortzügen. Vor einigen Jahren im neuen Glanz renoviert. Besonders beliebt bei den Pendlern ist die Bar auf der Empore, wo man zur blue hour rasch zwei, drei Drinks herunterstürzen kann, bevor es mit dem Zug nach New Jersey oder Connecticut zurück geht. (Foto: Iwannek)

Ihren Tiefpunkt erreichte die New Yorker Subway in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Raubüberfälle und tätliche Angriffe waren an der Tagesordnung – rund 8.300 Passagiere wurden 1986 ausgeraubt und 20 ermordet. Fenster einzutreten wurde eine Art Volkssport – 120.000 Glasscheiben gingen 1981 zu Bruch. Und buchstäblich jeder Quadratzentimeter der Stationen und der Züge innen und außen war übersät mit Graffiti. Dazu kamen permanente Zugausfälle. Ein Drittel der Flotte war in den Achtzigern außer Dienst, und in den Zügen, die noch fuhren, ging öfter mal das Licht aus oder sie setzten sich selber in Brand. Schwere Unfälle geschahen, beispielsweise als sich 20 Tonnen Beton aus der Decke des Tunnels unter 42zigsten Straße lösten, einen Fahrgast töteten, 10 weitere verletzten und 1.000 Passagiere über eine Stunde im Tunnel einsperrten, bevor sie aus ihrer misslichen Lage befreit werden konnten. Kein Wunder, dass die Fahrgastzahlen in dieser Zeit um 21 Prozent in den Keller gingen. Wer setzte sich schon gern täglich einer Art Nahtod-Erfahrung aus oder stieg in die längste Geisterbahn der Welt?

Was war geschehen? Das Auto hatte nach dem Zweiten Weltkrieg – befeuert durch verhängnisvolle verkehrspolitische Entscheidungen – seinen Siegeszug angetreten. Die weiße New Yorker Mittelkasse war in die Vororte gezogen, um die Kriminalität in der Großstadt hinter sich zu lassen, und fuhr mit dem Auto zur Arbeit. Riesige Stadtteile wie die South Bronx verfielen, die New Yorker Bevölkerung sank um 10 Prozent oder 800.000 Einwohner, was die Löcher im Stadtsäckel noch vergrößerte. 1975 war New York am Rand der Zahlungsunfähigkeit. Das Geld, das man noch hatte, wurde in Brücken und Tunnel für Autofahrer gesteckt wie das gigantische Autobahnkreuz Triborough Bridge im Norden von Manhattan, dessen zahllose Fahrspuren aus der Luft betrachtet aussehen wie ein Teller Spaghetti.

Aber New York ist schon oft das Ende vorausgesagt worden, und doch hat die Stadt immer überlebt. Interne Reformprojekte und Geldspritzen vom Bundesstaat New York in Albany und der Bundesregierung in Washington halfen der Subway allmählich aus der Not. Auch das Graffiti-Problem bekam man in den Griff, indem man keine ungereinigten Züge mehr auf die Strecke schickte, die Betriebshöfe mit Stacheldraht einzäunte und von Hunden bewachen ließ. Der Vorschlag eines New Yorker Bürgermeisters, die Hunde durch Wölfe aus dem New Yorker Zoo zu ersetzen, fand allerdings keine Zustimmung.

Als die Helvetica in die USA kam: In den Siebzigern führte die Subway ihr Informationssystem weiß auf schwarzem Grund und mit serifenfreier Schrift ein. Der Zahn der Zeit konnte diesem Klassiker aller Infosysteme nichts anhaben, er gilt bis heute. (Foto: Iwannek)

In den Siebzigern erhielt New York auch sein unverwechselbares grafisches Informationssystem: die Nummern und Buchstaben in Weiß auf farbigen Kreisen. Die dazu verwendete serifenfreie Schrift war damals etwas komplett Neues in den USA: die heute weltberühmte Helvetica. Der Mann, der die Helvetica nach Amerika brachte, war eine Legende unter den Grafikdesignern und hieß Massimo Vignelli. Er entwickelte Logos, die so gut waren, dass die Unternehmen sie jahrzehntelang verwendeten: Etwa das doppelte A in rot und blau für American Airlines oder das grüne Rechteck für Benetton. Vignelli war berühmt (und berüchtigt) für das Selbstbewusstsein, mit dem er seinen Auftraggebern gegenübertrat. Sein Traum wäre es, das corporate design des Vatikans zu überarbeiten, gestand er einmal: „Dann würde ich zum Papst gehen und ihm sagen: Heiliger Vater, das Logo ist ok (gemeint war das Kreuz) aber alles andere muss weg.“ Vignelli legte die Regeln für seine New Yorker Beschilderung in einem 356seitigen Handbuch fest, das heute als Bibel des modernen Grafikdesigns gilt. Der Zahn der Zeit hat Vignellis Arbeit nichts anhaben können: Die Subway verwendet das Design noch immer. Es ist einleuchtend, gut lesbar und klasssisch in seiner Zeitlosigkeit.

New York hat die Anschläge auf das World Trade Center überstanden, es hat die Pandemie überstanden, und auch die aktuelle Immobilienkrise – ausgelöst durch den ungenutzten Büroraum, der im Zeitalter des Home-Office leer steht – wird New York überstehen. Die Stadt New York ist ja nicht erhaben und prächtig wie Paris oder London. Es ist eine Stadt, die bis heute vor allem der Überlebenswille der Zugezogenen und Eingewanderten prägt, nicht der Stolz ihrer Elite. Und daher passt die kleine Pizza Ratte, wie sie mit all ihren Kräften an diesem Stück Pizza zerrt, das ihr das Überleben sichern soll, zu New York wie ein Wappentier. Dass die New Yorker bei all diesem täglichen Kampf aber niemals verbittern, sondern den Widrigkeiten ihres Alltags mit einem wunderbaren Humor begegnen (mitunter leicht sarkastisch eingefärbt) und sich jedem Fremden und Neuem gegenüber offen und herzlich zeigen, zählt zu den wahren Wundern dieser Stadt. Und so galt auch für diese Reise der Satz von Theodor Fontane: „Das beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein.“

Eindrücke aus dem New Yorker Tunnel. (Foto: Iwannek)

Lest im zweiten Teil des Berichts von Udo Iwannek aus New York, den wir in Kürze hier online stellen: Wer die Glücksritter waren, die New Yorks Subway erschufen. Und was der New Yorker Nahverkehr für die Zukunft plant.

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