Mein Leben mit der Straßenbahn: Das größte Loch von allen
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Mein Leben mit der Straßenbahn: Das größte Loch von allen

Was am Waterlooplatz mit dem ersten Rammschlag 1965 begonnen wurde, war sechs Jahre später im Herzen der Stadt angekommen: der U-Bahn-Bau. Für den zentralen Knotenpunkt des hannoverschen Stadtbahnnetzes, an dem sich alle Strecken trafen, wurde 1971 am Kröpcke die größte Baugrube ausgehoben, die die Stadt je sehen sollte: 25 Meter tief und so groß, dass 50.000 Lkw-Ladungen Erde abtransportiert werden mussten, um das größte Loch von allen auszuheben.

Hannovers City war für uns Oberricklinger weit, weit weg. Dahin fuhren wir eigentlich nur, wenn meine Mutter auf Einkaufstour ging. „Junge, du brauchst eine Übergangsjacke“, rief sie aus und duldete keinen Widerspruch. Mein Vater war entweder auf Schicht in der Hanomag-Fabrik oder lag im Bett und schlief. Meine Mutter war zuhause der Boss. Sie erzog uns in ihrem katholischen Glauben (mein Vater war Protestant), führte uns jeden Sonntag in die Kirche zum Gottesdienst und ein- bis zweimal im Jahr zum Einkaufen in die City. „Wir fahren in die Stadt“, so nannte man das damals. Spaß machte mir das keinen.

Hannovers Innenstadt 1973 – geprägt vom „großen Loch“. (Foto: ÜSTRA Archiv)

Eigentlich war mir alles zuwider, was mich vom Spielen und Lesen meiner geliebten Bücher abhielt. Die Schrecken meiner Kindheit waren nicht nur die endlosen Gottesdienste, die mir die Hälfte des schulfreien Sonntags stahlen (die Messe wurde vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil weitgehend in Latein gelesen, was mir den Zugang zum katholischen Ritus nicht gerade erleichterte), sondern auch das weiße Nyltest-Hemd, dass ich für den Kirchgang anziehen musste. Kann sich noch jemand an die Hemden aus dieser Nylon-Faser erinnern?

Winters kamen sie aus dem Schrank im ungeheizten Kinderzimmer und fühlten sich beim Anziehen an, als würde man aus dem warmen Bett direkt in eine sibirische Schneewehe gestoßen. Vielleicht hatte Nyltest ein paar praktische Vorzüge, aber es konnte ganz sicher nicht Wärme speichern und Feuchtigkeit ausgleichen – wofür der Mensch die Kleidung ja eigentlich erfunden hatte. Man hätte auch Löcher für Hals und Arme in eine Plastiktüte schneiden können. Schwitzte man auch nur ein kleines bisschen, klebte Nyltest sofort auf der Haut fest und weigerte sich, jegliche Bewegung mitzumachen. Kurze Zeit später befand sich der kleine Mensch in einem unsichtbaren Ringkampf mit seinem störrischen Hemd… War das die Strafe für meine Sünden, von denen in der katholischen Liturgie so oft die Rede war? Dazu trug ich beim Gottesdienst eine Art Anzug, dessen Hosenstoff entsetzlich auf den Oberschenkeln kratzte. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, sprach der Priester dazu vom Altar und klopfte sich an die Brust, hinter der das sündige Herz lag.

Wenn die Garderobe aufzubessern oder zu ergänzen war, ging es also mit meiner Mutter zum Einkaufen in die Stadt. Sie trug meist einen Kamelhaarmantel, der sie sehr ehrfurchtgebietend und imposant erscheinen ließ. „Übergangsjacken“ waren übrigens Jacken für die Übergangszeit zwischen Sommer und Winter, also für das ganze Jahr. Die Farbe dieser Jacken war von der gleichen saisonalen Unentschiedenheit und changierte zwischen Braun und Grau. Die Kaufhäuser, in denen es solche Mode gab, lagen am Kröpcke, auf dem damals noch das gleichnamige Café stand und vor dem die Straßenbahnen hielten. 1971 wurde das Café Kröpcke für den U-Bahn-Bau abgerissen.

Grundsteinlegung des Kröpcke-Centers im „großen Loch“. (Foto: ÜSTRA Archiv)

Vier Jahre zuvor war ein junger Berliner Ingenieur namens Klaus Scheelhaase nach Hannover gezogen, um das neu geschaffene U-Bahn-Bauamt der Stadt zu leiten. Mit seinem Team organisierte er nicht nur das größte städtische Bauvorhaben in der Geschichte Hannovers, er vollbrachte auch das Wunder, den Hannoveranern die jahrelangen Zumutungen von Großbaustellen einigermaßen schmackhaft zu machen. Man stelle sich vor, die Innenstadt würde heutzutage, im Zeitalter von Wutbürgern mit Rechtsschutzversicherung, so umgegraben, wie es damals geschah. Es würde Einsprüche und einstweilige Verfügungen nur so hageln. Scheelhaase setzte damals auf Bürgerdialog und transparente Öffentlichkeitsarbeit und schaffte es tatsächlich, die Hannoveraner auf dem Weg in die Zukunft mitzunehmen.

Es gibt eine Filmaufnahme in einer NDR-Dokumentation über den U-Bahn-Bau, die das Richtfest für den Wiederaufbau des Café Kröpcke zeigt, nachdem das größte Loch in der Geschichte Hannovers geschlossen war. Ein junger Klaus Scheelhasse steht neben Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg in einer Menschentraube und kämpft mit einem zappelnden Ferkel, das ihm jemand in die Arme gedrückt hat. Bis auf das Schweinchen lachen alle und sehen sehr glücklich aus.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Das waren noch Zeiten. Hannover träumte von was ganz großem und hat damit eines der besten Nahverkehrsnetze in Deutschland geschaffen. Doch statt es zu vollenden (D-Tunnel) stellen sich ausgerechnet diejenigen, die dem ÖPNV eigentlich wohlgesonnen sein sollten voll entgegen und zerstören das Konzept. Naja, vielleicht kommt er in 15-25 Jahren, wenn man verstanden hat, dass eine Stadtbahn nicht die Autos stören soll sondern Fahrgäste schnell und bequem von A nach B bringen muss!

  2. Da waren noch Männer mit Weitblick am Gange, die mit städtischer Unterstützung einer noch nicht nur auf Rettung bedachten Partei Großes geschaffen haben. Heutzutage kommt aus dem Regionshaus eher nur das Zögerliche, Abwartende oder Verneindende. Es wird abgewogen, politisch bis zum Erbrechen gedreht und gewendet, taktiert und geschoben – mit dem Konstrukt, was heute den ÖPNV und seine möglichen Neubauten bewältigen muss, lässt sich kein Staat machen. Würden wir vor 40 Jahren genau so wie heute Tunnel planen, würde bis zum heutigen Tage nicht ein Meter stehen. Deswegen ziehe ich den Hut vor all den Machern, Bauleuten und Mitstreitern, die ein hochleistungsfähiges Netz in der Innenstadt geschaffen haben, was auch heute noch genügend Reserven für die weitere Zukunft liefert. Mit dem vierten Tunnelstrang wäre das Netz komplett, aber rein politisch wird das wie gesagt in den nächsten 10 Jahren nichts mehr. Am „Projekt 10/17” hat sich niemand gefreut oder an den Baustellen die Nase platt gedrückt.

  3. Rückblickend betrachtend läuft man stets Gefahr, etwas maßlos überzubewerten, und die Schattenseiten des Erreichten auszublenden. Tatsächlich ist der U-Bahnbau in Hannover nur verständlich im Zusammenhang mit den städtebaulichen Absichten der 60er und 70er Jahre. Und mit dem Anfang der 60er Jahre angenommenen demographischen Entwicklung. Es sollten Hochhauskomplexe, sogenannte Großkomplexe an verschiedenen Punkten in der Stadt entstehen, die das Ihmezentrum noch in den Schatten gestellt hätten. Und diese Großkomplexe sollten unterirdisch mit 100 Meter langen und 2,90 m breiten U-Bahnen verbunden werden, um große Menschenmassen damit bewegen zu können. Gleichzeitig sollten oberirdische Verkehrsflächen großzügig für den Autoverkehr ausgebaut werden. Und der seit Mitte der 50er Jahre stark anwachsende Bevölkerungszuwachs rechtfertigte die großformatigen Planungen. Bekanntlich kam der „Pillenknick“ und das Misstrauen und Missgefallen an der „schönen neuen Welt“, die da entstehen sollte. Die autogerechte Stadt wurde als seelenlose Stadt erlebt. Und in den Stadtteilen erkämpften Bürger den Erhalt der Gebäudestrukturen gegen Planierung und Neubau. So erklärt sich auch, dass längst nicht alle einmal geplanten Stadtbahntunnel auch zur Ausführung kamen. Und obwohl die Tunnel so gebaut sind, dass dort breitere Fahrzeuge fahren könnten, hat man bis heute darauf verzichtet, diese einzusetzen. Denn nur mit den maximal 2,65 m breiten und maximal 75 Meter langen Stadtbahnen ist es möglich, auch die oberirdischen Verkehrsflächen zu befahren, die ebenfalls anders als ursprünglich einmal geplant, erhalten geblieben sind. Es würde ja auch wenig Sinn machen, in einem Kurztunnel z. B. von Waterloo bis Lister Platz eine 2,90 m breite und 100 m lange U-Bahn hin und her fahren zu lassen.
    Möglicherweise hat man es durch den U-Bahnbau versäumt, früher und gründlicher Wege zu einer autofreien städtischen Mobilität einzuschlagen, bei der sehr viel stärker und deutlicher ein oberirdischer ÖPNV im Mittelpunkt steht? Aber dafür ist es noch nicht zu spät. Und die Fridays for Future Demonstrantionen lassen hoffen, dass mehr und mehr eine autofreie und nachhaltige Mobilitätsentwicklung stattfindet!

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