Als ich gerade dabei war, mein zehntes Lebensjahr zu vollenden, ging großes vor in meiner Heimatstadt: Rund um die Waterloosäule wurde gegraben, bis der ganze Platz nur noch ein einziges Loch war. Ich erinnere mich, wie ich gemeinsam mit meinem Bruder einen Blick durch eine kleine Lücke in den Brettern warf, mit denen der Platz abgesperrt war, und mir schwindelig wurde, als ich in dieses unfassbar große und tiefe Loch starrte. Es war, als habe sich mitten in meiner Stadt eine neue Welt aufgetan, eine fremde Galaxie, hinter einem Bretterzaun verborgen. Das konnte nicht real sein. Das war Science Fiction. So wie in der „Raumpatrouille“, der 1966 alle vierzehn Tage am Samstag nach der Tagesschau ausgestrahlten Fernsehserie, in der Commander Allister McLane und seine Besatzung mit dem schnellen Raumkreuzer Orion die Erde vor der Bedrohung aus dem All beschützten. Und das in Schwarzweiß. Noch heute kann ich die markante Stimme von Claus Biederstaedt hören, wenn er zu Beginn jeder Folge sprach: „Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist ein Märchen von übermorgen…“
Hannover hatte sich in der Tat großes vorgenommen. Schon 1946, als der Wiederaufbau der fast völlig zerstörten Innenstadt noch vor den Hannoveranern lag, wurde im Rat erstmals darüber gesprochen, den ganzen Straßenbahnverkehr unter die Erde zu legen. Die Rede war von einer „Unterpflasterbahn“ (womit das Straßenpflaster gemeint war). Der damalige ÜSTRA-Direktor Friederich Lehner entwickelte dazu in den 50er Jahren gleich mehrere Alternativen, schreiben Michael Narten und Achim Uhlenhut in ihrer Chronik „Unterwegs in Hannover – 125 Jahre ÜSTRA“ (Hannover 2017, Seite 273).

Inbetriebnahme einer Ramme für den ersten Rammschlag (Baubeginn der U-Bahn am Waterlooplatz) am 16. November 1965 (Foto: ÜSTRA Archiv)
Am 23. Juni 1965 beschloss der Rat der Landeshauptstadt schließlich den Bau einer U-Bahn. Welche Streckenabschnitte am Ende unter die Erde gelegt werden und welche Haltestellen sich in unterirdische Stationen verwandeln sollten, war noch gar nicht festgelegt. Und dass sich Hannovers unterirdischer Nahverkehr zu etwas damals in Deutschland völlig neuem, nämlich dem System einer „Stadtbahn“ entwickeln sollte, war ebenfalls noch niemandem klar. Trotzdem: Mit einem gewaltigen Rumms dröhnte der erste Schlag der Dampframme am 16. November 1965 über den Waterlooplatz und trieb den ersten Stahlträger in das Erdreich. So ging es los. Vier Tage zuvor war ich neun Jahre alt geworden.
Der Zauber, der allem Anfang innewohnt, verflüchtigte sich rasch. Die erste Rampe wurde noch im Rohbau fertig, dann stockte die Finanzierung. Erst im Juni 1967, mit neuer Förderung und besserer Organisation und Planung, nahm der Bau richtig Fahrt auf. Ein gutes Jahr später, am 31. August und 1. September 1968, wurde für das „1. U-Bahn go in“ der Bretterzaun geöffnet: Die Hannoveraner konnten in das große Loch am Waterlooplatz hinabsteigen und es über provisorische Holzplanken begehen. Sogar einen Straßenbahn-Oldtimer, den Wagentyp 168 von 1893, hatte man in die Baustelle hinabgelassen (vermutlich um zu zeigen das Straßenbahnen in den Tunnel passen würden).
Die Sechziger! Eine Zeit des Aufbruchs, auch in Hannover. Mit der U-Bahn sollte auch ein neues Bewusstsein von Stadt in die Köpfe der Hannoveraner einziehen. War man sich immer unsicher gewesen, ob man eine richtige Großstadt sei oder doch nur so eine Art Provinzmetropole, so war diese Frage jetzt ein für alle Mal entschieden: Nur Großstädte hatten eine U-Bahn. Wenn Hannover nun auch eine bekam, musste es ja wohl eine Großstadt sein.
Der Modernisierungsschub, der damals durch Hannover ging, beschränkte sich übrigens nicht auf den Nahverkehr. Die Planungen von weiteren, hoch ambitionierten Projekte befeuerten die Phantasie der Städtebauer. Eines davon war das Ihmezentrum, das ab 1966 geplant wurde. Weitere solcher Zentren sollten rings um die Innenstadt entstehen, zum Beispiel auch am Aegi. Das Zeitalter des Sichtbetons brach an.
Der neunjährige Schuljunge, der ich damals war, nahm all die Veränderungen in ihrer Unwirklichkeit mit naivem Staunen wahr. Erst einige Jahre später, als sich der U-Bahn Bau vom Waterlooplatz in Richtung Altstadt fortgesetzt hatte und Kurs auf den Kröpcke nahm, wurde der Aufbruch ein Teil meiner Lebenserfahrung. Doch davon nächstes Mal mehr…