Ich war ein zwölfjähriger Schüler, als ich vor fünfzig Jahren – im Juni 1969 – an der Haltestelle Wallensteinstraße in Oberricklingen auf die Straßenbahn wartete. Ich war zusammen mit meinem Bruder auf dem morgendlichen Schulweg zur Realschule Am Lindener Berg. Aber dies war kein Schultag wie jeder andere. Dies war ein Tag, der Hannover für immer verändern und in die Geschichte eingehen würde. Denn die Straßenbahn kam an diesem Tag nicht.
Die Fahrgäste waren schon ziemlich unruhig und spähten die Gleise entlang Richtung Mühlenberg, von wo die Bahn hätte kommen müssen. Was aber stattdessen kam, war eine altersschwache und kunterbunte Citroen-Ente, die mitten auf der Straße neben den Gleisen hielt. Aus ihr stieg eine Frau mit offenen roten Haaren, etwa so alt wie die Lehramtsstudenten, die an unserer Schule ihr Referendariat absolvierten. Sie trug – mitten im Sommer – einen offenen Mantel, der aus Stoff- und Pelzflicken zusammengeschneidert war. So einen Mantel hatte ich noch nie gesehen. So eine Frau hatte ich noch nie gesehen.
„Hey, Leute“, rief sie uns zu, „die Üstra fährt heute nicht. Die wird boykottiert. Wir organisieren das jetzt selbst.“
An der Haltestelle schauten sich alle fragend an. Nichts von dem, was diese Frau da sagte, ergab irgendeinen Sinn. Die Üstra fährt heute nicht? Die Üstra fuhr immer, so lange ich denken konnte. Ebenso gut hätte sie sagen können: Die Sonne geht heute nicht auf. Was sollte das?
Die Frau stellte sich mitten auf die Straße, hielt die Arme in die Luft und brachte das nächstbeste Auto zum Stehen, einen grünen Ford Taunus. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter. Aber bevor er losschimpfen konnte, fragte die Frau ihn, wohin er fährt. Dem Mann kippte die Kinnlade herunter. „Zum Schwarzen Bären…“ stotterte er. Die Frau drehte sich zu uns um. „Hey! Hier sind drei Plätze zum Schwarzen Bären!“
Wir waren fassungslos.
Sie schaute meinen Bruder und mich an. „Ihr beide da! Ihr müsst doch zur Schule, oder? Ist das Eure Richtung?“
Irgendwie schon. Am Schwarzen Bären stiegen wir normalerweise von der Straßenbahn in den Bus zum Lindener Berg um.
„Na los!“ Schon kletterten wir in den Ford Taunus und sagten dem Fahrer schüchtern Guten Tag. „So, jetzt habt ihr ja gesehen wie das geht“, rief die rothaarige Frau den anderen Fahrgästen an der Haltestelle zu. „Ihr müsst Euch selber organisieren! Ich muss jetzt weiter…“ Dann stieg sie in ihre Ente und knatterte davon.
Mein Bruder und ich kamen tatsächlich an diesem Tag und in dieser Juniwoche pünktlich zur Schule, auch ohne Üstra. Nach kurzer Zeit hatte nahezu jedes Auto in Hannover einen roten Punkt aus Papier in der Windschutzscheibe und signalisierte damit, fremde Leute kostenlos mitzunehmen. An den Haltestellen, an denen jetzt keine Straßenbahnen mehr hielten, stoppten dafür jede Menge Autos, die Fahrtrichtung wurde ausgerufen und die Menschen stiegen ein.
Für meinen Bruder und ich waren dies faszinierende Sommertage voller Wunder. Unsere Eltern waren nicht reich und hatten noch nie ein Auto besessen. Autofahrten waren seltene und aufregende Ereignisse, die das Herz hochschlagen ließen. Auf dem Schulhof wurde damit angegeben, in was für Automarken man heute zur Schule gebracht worden sei. Auf den Ford Taunus folgten noch viele Opel, Volkswagen und einmal sogar ein Mercedes.
Erst lange Zeit später habe ich verstanden, was damals in Hannover geschehen war. Nicht in den Metropolen der Bundesrepublik, in Berlin, Hamburg oder München – nein, ausgerechnet im angeblich so sterbenslangweiligen Hannover war der studentische Protest auf fruchtbaren Boden gefallen und hatte eine ganze Stadt mobilisiert. Danach war Hannover nicht mehr die Gleiche. Es folgten Straßenkunst und Altstadtfest, die Stadt öffnete sich und der tiefe norddeutsche Himmel, der so niederdrückend sein konnte, weitete sich bis zum Horizont.
Die Üstra wurde damals kommunalisiert, der Rote Punkt wurde zu ihrer zweiten Geburtsstunde. Der Gedanke, dass unser Verkehrsunternehmen sozusagen das Kind einer Sommerrevolte ist, hat mir immer gut gefallen. Wer sich jemals gefragt hat, warum Fahrpreiserhöhungen seitdem im Winter verkündet werden, hat hier die Antwort.
Aus dem jungen Schüler von 1969 ist heute ein älterer übergewichtiger Herr geworden, der mit großer Anteilnahme junge Menschen sieht, die jeden Freitag um ihre Zukunft kämpfen. Rosa Luxemburg schrieb in ihrem letzten Zeitungsartikel, kurz bevor sie 1919 – wie jetzt der Kassler Regierungspräsident Walter Lübcke – von Faschisten ermordet wurde:
Es ist die Revolution, die spricht: Ich war, ich bin, ich werde sein.
Mehr über den Roten Punkt erfährt man hier.
Moin und guten Tag!
Danke Herr Iwannek, dass Sie uns an den „Roten Punkt“ erinnern! In der DVD-Editon „Hannover-Filme“ gibt es den „Film von Thomas Garzke“ mit „Kommentar von Heinz Koberg“, der „Rote-Punkt-Aktion in Hannover, 1969“. Für 5 Minuten Farbfilm sind 6 Euro zwar viel Geld, aber mir gefällt der Film sehr. Es gibt ihn zum Beispiel im Historischen Museum Hannover oder im Kino im Künstlerhaus.
Einen guten Rest des Jahres wünscht allen, die das hier lesen, ÜSTRA-FAN Stefan Fastenau.