Der Tag im Büro war lang gewesen und nicht besonders schön. Abends um halb neun war die Linie 10 noch gut besetzt. Die Hauslinie der Lindener ist die einzige, deren Fahrgastzahlen keine nennenswerten Schwankungen im Tagesverlauf kennen. Andere Linien sind morgens voll, wenn die Menschen zur Arbeit müssen und die Schüler zu Schule, und abends, wenn alle wieder nach Hause kommen. Die Lindener haben offenbar eigene Tages- und Nachrhythmen. Oder gar keine, ihr Leben ist einziger, stetiger Fluss der Mobilität…
Die junge Frau im Beiwagen vorne links jedenfalls hatte offenbar einiges zu organisieren für das nahende Wochenende, und daran ließ sie ihre Mitreisenden teilhaben. Angestrengt starrte sie durch die Fensterscheiben der Stadtbahn ins hannoversche Verkehrsgeschehen, als lägen da draußen die Antworten auf all die Fragen, die sie am Handy mit Gott-weiß-wem erörterte. „Den Wein hole ich bei Lidl, die haben jetzt ein Sonderangebot… nein bei Rewe… weiß nicht wann er kommt… vielleicht hat er schon gegessen… Sushi hör mir auf mit Sushi… boah die war echt sowas von sauer… und ich so: ach die kann mich mal… und sie so: das weißt du doch gar nicht, und ich so: aber du oder was…? Ehrlich? Bei wem? Vorher oder nachher?…. “ Mit einem prustenden Geräusch gackerte sie ins Mobiltelefon. Ihre Stimme schnappte am Ende der Halbsätze, die sie atemlos ausstieß, immer ein wenig über, was einen hysterischen Eindruck machte. Die Tonlage war eine halbe Oktave zu hoch und erinnerte an das Geräusch von Kreide auf einer Schultafel oder an Styropor, das von einem stumpfen Messer geschnitten wird.
Mittlerweile konnte man ihren Gesprächsverlauf im ganzen Wagen verfolgen. Weghören zu wollen ist in solchen Fällen zwecklos, genauso gut könnte man sich überall Haftnotizen hin kleben mit der Aufforderung, einen bestimmten Menschen zu vergessen. Einige Fahrgäste verdrehten die Augen, andere schüttelten in stiller Verzweiflung den Kopf. Wäre der Mann in der Bahn gewesen, der die Flatrate erfunden hat: wir hätten ihn ohne mit der Wimper zu zucken gelyncht und aus der Bahn geworfen. Aber Fräulein Und-ich-so kannte keine Gnade und kein Erbarmen: „Nein weißt du das denn noch gar nicht… die sind doch gar nicht mehr zusammen… jajajaja das habe ich ihr doch tausendmal gesagt… ach so ja und Norbert kommt ja nicht zu der Party…“
„NORBERT KOMMT NICHT ZUR PARTY? NOOORBERT KOMMT NICHT ZU PARTY! NA DAS IST JA MAL EIN DING!“
Dem dicken Mann hinter mir war offenbar der Kragen geplatzt. Immer wieder brüllte er den letzten Satz der Dauer-Telefoniererin durch die Bahn. „NORBERT KOMMT NICHT ZUR PARTY! HAT MAN WORTE! ICH GLAUBE GANZ HINTEN SITZEN ZWEI DIE HABEN ES NOCH NICHT MITBEKOMMEN! HE IHR DA! DASS IHR ES AUCH JA WISST: NORBERT KOMMT NICHT ZUR PARTY!“
Die junge Frau stieg das Blut in den Kopf, am ihrem Hals blühten plötzlich rote Flecken. Rings um sie begann man zu kichern. Feixende Gesichter grinsten sie an. Der Dicke kriegte sich nicht mehr ein. „ALSO DASS DER NORBERT NICHT ZUR PARTY KOMMT! HÄTTE ICH JA NIE FÜR MÖGLICH GEHALTEN!“ Die junge Frau raffte ihre sieben Sachen zusammen, lies das Handy grußlos in die Handtasche plumpsen und ging zur Tür. Haltestelle Glocksee. Fluchtartig sprang sie aus der Bahn. Ihre Ohren glühten.
Ich blickte ihr nach. Jetzt tat sie mir ein bisschen leid. Ich hoffe sie ist gut nach Hause gekommen. Und Norbert ist doch noch zur Party erschienen.