Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ beginnt in München. Der Schriftsteller Gustav von Aschenbach unternimmt – da sein geliebter Mittagsschlaf ausgeblieben ist – einen Spaziergang von der heimischen Prinzregentenstraße in den nahegelegenen Englischen Garten, „in der Hoffnung, dass Luft und Bewegung ihn wiederherstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfen würden.“ Allmählich sinkt die Dämmerung auf die Stadt. Von Aschenbach entscheidet sich, für den Heimweg die „Elektrische“ zu nehmen, wie die Straßenbahn 1912 – dem Erscheinungsjahr der Novelle – genannt wurde, „und erwartete, da er sich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am Nördlichen Friedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringen sollte.“
Abgespannt und erregt zugleich, schweift der Blick des Schriftstellers beim Warten an der Haltestelle über die gegenüberliegende Aussegnungshalle des Friedhofs, ein byzantinisches Bauwerk, „mit griechischen Kreuzen und hieratischen Schildereien in lichten Farben geschmückt“, und bemerkt einen auf der Freitreppe vor dem Portikus stehenden Mann, an dessen Fremdartigkeit sich seine Phantasie entzündet: „Mochte nun aber das Wandererhafte in der Erscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder sonst irgendein physischer oder seelischer Einfluss im Spiele sein: eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne (…) Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert.“ Von Aschenbach entschließt sich noch am selben Abend zu einer Reise, die ihn nach Venedig und schließlich ins Verhängnis führt.
Tagträumereien gehören nicht nur in der Weltliteratur, sondern auch in unserem Alltag zum Nahverkehr dazu, und beginnen schon an der Haltestelle. Nirgendwo sonst kann man anderen Menschen so nahe kommen und sie beobachten, ohne sich selbst aus der Anonymität lösen zu müssen, wie in Bus oder Bahn. Das Flüchtige der Begegnung befreit die Phantasie von ihren Hemmungen: Gerade weil wir die Anderen nie wiedersehen werden, dürfen wir sie uns ausmalen, wie wir wollen.
Die Passivität des Passagiers, das „befördert werden“, bewirkt eine wohlige Trägheit, die der Tagträumerei den nötigen Raum verschafft. Angeblich sind im 19. Jahrhundert zahlreiche Fahrgäste auf den ersten Fahrten mit einer Eisenbahn eingeschlafen – offenbar eine Abwehrreaktion auf die Sinneseindrücke, die bei der damals ungewohnten Reisegeschwindigkeit auf die Passagiere einstürzten. Ruhen, dämmern und träumen gehören zum Gefahrenwerden dazu. Auch Thomas Manns Held verlassen seine Widerstandskräfte, als ihn nach der Ankunft in Venedig ein unheimlicher Gondoliere nicht dahin befördert, wohin er gebracht zu werden wünscht, und lässt es schließlich – nach einigen schwachen Widerworten – ermattet geschehen: „Wie weich er übrigens ruhen durfte, wenn er sich nicht empörte. Hatte er nicht gewünscht, dass die Fahrt lange, dass sie immer dauern möge? Es war das Klügste, den Dingen ihren Lauf zu lassen, und es war hauptsächlich höchst angenehm.“
Viele Pendler schätzen in der Tat gerade diese träumerische Stimmung, mit der sie in den Berufsalltag gleiten, als angenehm. Es unterscheidet sie vollkommen von denen, die jeden Tag mit dem Auto zu Arbeit fahren. Denn beim Autofahren werden offenbar – jedenfalls hierzulande – Jagdinstinkte geweckt. Wie im Rudel hetzen die Sechszylinder auf der Überholspur hintereinander her. Wenn die Fahrer dann im Büro erscheinen, sind sie – im Gegensatz zu den entspannten Pendlern – mit Adrenalin geflutet und völlig überdreht.
Ich habe in meinem Leben mit der Straßenbahn so manchem Tagtraum nachgehängt, und sehe heute in der Bahn die vielen Smartphone-Junkies im fahlen Licht ihrer Bildschirmoberflächen, auf denen sie hektisch herumwischen, mit Befremdung und leisem Bedauern. Da frage ich mich doch lieber, ob die junge Frau dort drüben wohl glücklich ist und der alte Herr an der Tür vielleicht Enkel hat, die ihn ab und zu besuchen. Wer weiß. Dann steige ich aus. Auch das Vergessen – aus den Augen, aus dem Sinn – gehört zum Tagtraum dazu, wusste bereits Thomas Mann:
„Auf der Platt¬form fiel ihm ein, nach dem Manne im Basthut, dem Genossen dieses immerhin folgereichen Aufenthaltes, Umschau zu halten. Doch wurde ihm dessen Verbleib nicht deutlich, da er weder an seinem vorherigen Standort, noch auf dem weiteren Halteplatz, noch auch im Wagen ausfindig zu machen war.“
„Tagträumereien in der Weltliteratur“, so heißt es an einer Stelle im Text. Und mir fällt dazu auch gleich ein Beispiel ein: „Kommissar Beck“, die Hauptfigur in der Krimi-Reihe von Sjöwall/Wahlöö, fährt auch Straßenbahn. In einer Buchbesprechung zu seinem ersten Roman-Fall von 1965, „Die Tote im Göthakanal“, heißt es: „Kommissar Beck muss des öfteren die Straßenbahn nehmen, da nicht jedes Kommissariat komplett mit Autos ausgestattet werden konnte.“ http://buchladen-in-buch.de/sjoewall-wahloeoe-die-tote-im-goetakanal/ Es ist jedoch keinesfalls so, dass Komissar Beck das bedauern würde, dass nicht jedes Kommissariat mit ausreichend Dienstwagen ausgestattet ist. Vielmehr bedauert er es, dass die Straßenbahnen in Stockholm abgebaut werden und er dann irgendwann gezwungen ist, die U-Bahn zu benutzen. Und vielleicht ist es eine kleine Rache des Autorenpaares Sjöwall/Wahlöö, dass sie in einem späteren Roman-Fall der Krimi-Reihe einen Doppelstockbus zum Tatort eines schrecklichen Verbrechens machen: „Endstation für Neun“ von 1968. Denn die Straßenbahnverbindungen, die nicht durch die U-Bahn ersetzt wurden, die wurden in Stockholm durch Doppelstock-Omnibuslinien ersetzt.
Überhaupt scheint das schwedische Kriminalroman-Autorenpaar sehr weitsichtig gewesen zu sein. Immer wieder werden Szenen in der Art beschrieben, dass Kommissar Beck am Fenster steht und mit großer Sorge den immer stärker anwachsenden Autoverkehr beobachtet. Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn eines Tages darüber berichtet werden sollte, dass Greta Thunbergs Initiative zum Schulstreik für das Klima unter anderem darin wurzelt, dass sie in Sjöwall/Wahlöös Krimi-Reihe gelesen hat.