Schon wieder geht es für die Putzkolonne zur Haltestelle Sedanstr./Lister Meile. In mühevoller Arbeit werden mit Bürsten, Hochdruckreiniger und speziellem Lösungsmittel die Wände gereinigt. Doch kurze Zeit später zeigt sich das alte Bild: In den 1990er Jahren fällt die Station immer wieder illegalen Graffitis zum Opfer. Sprayer bringen ihre Kürzel – je nach Größe und Aufwand im Fachslang „Tags“ oder „Pieces“ genannt – an die Wände. Um dem Problem Herr zu werden entwickelt die ÜSTRA eine Lösung ganz ohne Chemikalien – den „Hannover-New York Express“.
1994 wendet sich die ÜSTRA an den Graffiti-Künstler Orlando Brakel: „Als ich angesprochen wurde, ob ich Bock auf ein Graffiti-Projekt in der Bahnstation an der Sedanstraße habe, war ich sofort am Start!“ Ich bin mit Orlando verabredet, um mehr über die Hintergründe zum „Hannover-New York Express“ – dem internationalen ÜSTRA Graffiti-Projekt – zu erfahren. Orlando Brakel ist seit rund dreißig Jahren als Sprayer aktiv und betreibt in Hannover einen Shop für Graffiti-Utensilien. Wir treffen uns direkt an der Haltestelle. Orlando steht lässig aber auch schüchtern an der Wand zum Eingang der Sedanstr./Lister Meile. Sein Outfit – Sneaker, Wollmütze, Hüfttasche – entspricht meinem Stereotyp eines Sprayers. Gleichzeitig wirkt er aus der Zeit gefallen, wie ein Jugendlicher um die Jahrtausendwende. Auf dem Weg nach unten zur Verteilerebene begutachtet Orlando die bunten Wände mit Argusaugen: „Ich war schon lange nicht mehr hier. Wir haben damals die komplette Station neu gestaltet. Wenn ich die Haltestelle sehe, kommen eine Menge toller Erinnerungen hoch.“ Das ist verständlich, denn für das Projekt wurden drei der ganz großen Sprayer aus den USA eingeflogen. Lee, Daze und Crash, drei Szenegrößen aus der Geburtsstätte des Graffitis – New York City – waren von dem Projekt so begeistert, dass sie sich für eine Auftragsarbeit verpflichten ließen und dafür aus den USA nach Hannover kamen. „Ich glaube, in Deutschland gibt es keine weitere Haltestelle, die von Lee, Crash und Daze bemalt wurde, das ist einmalig“, sagt Orlando. Er, drei weitere Locals aus Hannover und die Graffiti-Stars aus New York: Das ist der „Hannover-New York Express“.
„Alles was du hier jetzt siehst, haben wir zuerst als Entwurf auf Papier gemalt und anschließend frei Hand auf die Wände gebracht“, erklärt mir Orlando, während wir durch die Haltestelle gehen. Innerhalb von vier Wochen verlieh die internationale Sprayer-Symbiose der Sedanstr./Lister Meile neuen Glanz und war – als positiver Nebeneffekt – auch noch gegen illegale Graffiti-Schandtaten gerüstet: „Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass nicht über andere Pieces gemalt wird“, klärt mich Orlando auf. Wir sitzen inzwischen am Bahnsteig vor einem seiner Graffitis – einer gesprayten Stadtbahn. Orlando hat bei seinem Anteil am „Hannover-New York Express“ die ÜSTRA selbst verewigt: „Ich wollte schon Stadtbahn-Motive dabei haben. Die Idee war, den Ort des Geschehens, also die Haltestelle, in den Mittelpunkt zu stellen.“
Ohnehin haben Graffitis und Bahnen eine besondere und zugleich – nennen wir es mal – schwierige Beziehung. Ich frage Orlando über die Hintergründe und erhalte einen kleinen Crashkurs in Sachen Graffiti-Historie. In New York haben bereits Sprayer-Pioniere in den 1970ern die U-Bahnen als Projektionsfläche für ihre Graffitis genutzt. Auf der „Subway“ und in den New Yorker Haltestellen wurde Sprayen berühmt, bevor die Bewegung unter dem Titel „U-Bahn-Graffiti“ nach Europa kam: „Gerade Bahnstationen bieten eine große Fläche und man erreicht viele Menschen. Und das ist ja die Grundidee von Graffiti: graue Flächen werden bunt und somit anschaulich“, erklärt mir Orlando. Sprayer bringen also Farbe in die vermeintlich graue Stadtbahnwelt.
Rechtlich ist das allerdings nicht so einfach: Wenn fremdes Eigentum ohne Einverständnis besprayt wird, ist das illegal – egal ob die Wand vorher grau war oder nicht. Im Umfeld der ÜSTRA sind auch heute noch – besonders in den Tunnelanlagen – illegale Graffitis zu finden. Doch wer sich zum Sprayen in die engen, dunklen Tunnel schleicht, bringt sich in Lebensgefahr. Zwischen Wand und Gleis ist kaum Platz. Wenn ein Sprayer von einer heranrauschenden Stadtbahn überrascht wird, keine Chance! Als Shop-Besitzer kennt Orlando die Thematik, sieht sich selbst allerdings nicht als Teil des Problems: „Was die Leute mit der Farbe machen, die sie bei mir im Laden kaufen, kann ich letztendlich nicht beeinflussen. Selbst wenn ich den Verkauf für illegale Zwecke verbieten könnte, sind die Dosen auch übers Internet einfach zu bekommen.“ Orlando selbst spraye nur auf legalen Flächen.
Beim Gespräch mit ihm merke ich jedoch, dass auch illegale Graffitis für ihn einen künstlerischen Reiz haben können. Als gerade ein TW 6000 der Linie 9 in Richtung Empelde die Station verlässt, schaut Orlando dem Fahrzeug hinterher und gesteht: „Für mich als Graffiti-Liebhaber hätte zum Beispiel eine gut besprayte Bahn auch einen anschaulichen Reiz. Ich kann gleichzeitig aber nachvollziehen, dass die ÜSTRA das Erscheinungsbild ihrer Fahrzeuge selbst bestimmen möchte.“ Und egal wie vermeintlich „ästhetisch“ eine Stadtbahn gestaltet wird, Graffitis zu entfernen ist teuer. Die ÜSTRA muss pro Reinigung, je nach Größe und Lack, 700 bis 1000 Euro zahlen.
Der „Hannover-New York Express“ zeigt jedoch, dass die ÜSTRA und auch Sprayer zusammenfinden können. Eine Stadtbahnhaltestelle bietet eine öffentliche Fläche für legales Graffiti und die Sprayer haben der Sedanstr./Lister Meile ein urbanes und künstlerisches Erscheinungsbild gegeben, das heute noch wirkt. Dennoch seien laut Orlando solche Projekte kein Allheilmittel gegen Nacht- und Nebelaktionen in der Szene: „Man wird niemals verhindern können, dass durch legale Projekte illegales Graffiti verschwindet. Manche Sprayer suchen einfach den Kick unter Zeitdruck im Verborgenen zu malen. Das unkontrollierbare, verbotene Element gehört für viele dazu.“ Projekte wie der „Hannover New-York Express“ sind die Ausnahme – nicht die Regel – und als Orlando und ich uns verabschieden, schaue ich noch einmal zurück zur Haltestelle. Außerhalb der Liaison zwischen Sprayern und ÜSTRA in der Sedanstraße/Lister Meile scheint die einzige Lösung gegen illegale Graffitis doch wieder die chemische zu sein. Also heißt es wohl weiterhin für den Putztrupp: An die Arbeit mit Bürste, Hochdruckreiniger und Lösungsmittel.
Haben die Tunnelsprayer die Zeit der Betriebsruhe ausgenützt ?
Interne Quellen behaupten sogar, dass „Tag und Nacht“ gesprayt wurde…